11

Charlie warf einen Blick auf seine Frau, die trotz der im Januar herrschenden Hitze bemerkenswert kühl aussah. Sie trug einen breitkrempigen, schwarz-beigen Hut zu einem cremefarbenen Kleid und plauderte angeregt mit Archie, Charlies bestem Jockey. Der Mann saß noch auf seinem Pferd und hatte gerade ein wichtiges Rennen auf Sydneys Rosehill Gardens Rennbahn gewonnen. Charlie wischte sich den Schweiß von der Stirn und fragte sich, wie er verhindern sollte, dass seine Frau das ganze Preisgeld für wohltätige Zwecke spendete – ohne einen ihrer üblichen Tobsuchtsanfälle zu provozieren. Seufzend tätschelte er die zweijährige Stute, die ihm gemeinsam mit seinem besten Freund und Kunden Jack Ellis gehörte. Obwohl er sich eigentlich keine Geldsorgen zu machen brauchte, durfte er nicht übermütig werden. Charlie straffte die Schultern, lächelte in die verschiedenen auf ihn gerichteten Kameras und schüttelte zwei Japanern die Hand. Sie gehörten zur Eigentümergemeinschaft des Pferdes, das seine Stute gerade geschlagen hatte.

Charlie war müde. In letzter Zeit kam er einfach nicht mehr zur Ruhe. Kurz vor Weihnachten hatten ihm Schmerzen in der Brust einen argen Schrecken versetzt, doch diese hatten sich als rein stressbedingt entpuppt. Mit seinem Herzen war alles in Ordnung. Und sein Terminkalender war inzwischen wieder so voll wie eh und je. In zwei Tagen wollte er zu einer Besprechung mit einer neuen Eigentümergemeinschaft nach Hongkong fliegen. Von da aus würde es nach Irland weitergehen, wo auf dem Gestüt Airlie Stud einige Hengste und Zuchtstuten zu besichtigen waren. Anschließend fand in Australien eine Reihe wichtiger Rennen statt, bei denen er ein paar vielversprechende Pferde an den Start schicken wollte. Doch am wichtigsten war, Nina daran zu hindern, verschwenderisch mit dem Geld um sich zu werfen.

Jack Ellis kam näher.

»Offenbar sehen die Dinge trotz unseres kleinen Gewinns nicht so rosig aus«, sagte der stämmige Mann mit den blauen Augen. Charlie sah ihn an und fragte sich, ob er ihm seine Befürchtungen anvertrauen sollte. Doch er entschied sich dagegen.

»Alles bestens, alter Junge«, erwiderte er. Seine vergnügte Miene verbarg seine wahren Gefühle. »Wenn dieses Pferd weiter so läuft wie heute, brauchen wir uns nicht zu beklagen, mein Freund.«

Er klopfte Jack auf den Rücken.

»Einige dieser irischen Stuten haben das Zeug, große Sieger zur Welt zu bringen. Da könnte sich in den nächsten ein bis zwei Jahren ganz schön etwas tun. Interesse?«

»Vielleicht.«

Ihr Gespräch wurde unterbrochen, denn man führte das Pferd weg und bat sie zur Siegerehrung auf die Bühne.

»Bei dir hängt wohl der Haussegen schief«, witzelte Jack leise. Er konnte Charlies Gedanken lesen und kannte das Ehepaar lange genug, um zu wissen, dass es zwischen ihnen nicht so gut lief, wie es nach außen hin aussah.

»Die beruhigt sich schon wieder«, murmelte Charlie und trat vor, um den Pokal entgegenzunehmen – begleitet von einem Blitzlichtgewitter und höflichem Applaus von der Teilnehmertribüne. Anschließend drängten sich die Gratulanten um Charlie und Jack, und die beiden Männer mussten, gemeinsam mit Nina und Archie, für die Fotografen posieren. Trotz seiner Müdigkeit fühlte Charlie sich besser. Jack war ein guter Freund. Jetzt musste er nur noch Nina zur Vernunft bringen.

Der Streit verlief nicht so heftig, wie Charlie befürchtet hatte. Nachdem Ninas Tränenstrom und der Schwall von Beschimpfungen versiegt waren, und sie außerdem aufgehört hatte, mit Kissen nach ihm zu werfen, gelang es ihm, sie zu überzeugen. Es war einfach nicht möglich, sämtliche Wohltätigkeitsorganisationen Australiens gleichzeitig zu unterstützen. Eine – oder höchstens zwei – großzügige Spenden im Jahr mussten genügen.

Er nahm sie in seine Arme und küsste sie zärtlich auf die Lippen. Nina drückte sich an ihn, und ihre Zunge tastete nach seiner. Atemlos wie zwei frisch Verliebte, entkleideten sie sich gegenseitig, und als er das Gesicht zwischen ihren Brüsten vergrub, spürte er, wie sie erschauerte. Er führte sie nach oben zu dem großen, breiten Bett, wo sie sich leidenschaftlich bis tief in die Nacht hinein liebten.

»Ach, Charlie, wenn es nur immer so sein könnte«, seufzte Nina und streichelte seine Stirn. Sie lagen eng aneinandergeschmiegt. Die Vorhänge waren geöffnet, sodass der Schein der Straßenlaternen das Zimmer erhellte. Leise surrte der Deckenventilator.

»Psst«, murmelte Charlie und küsste sie erneut.

»Wie lange willst du diesmal in Hongkong bleiben?«, fragte Nina.

»Nicht lange«, erwiderte Charlie schlaftrunken.

»Du weißt, dass Jo am nächsten Freitag Geburtstag hat?«, fuhr Nina fort. Sie lag auf dem Rücken und sah zu, wie die Schatten der Bäume vor dem Haus an der Zimmerdecke tanzten. »Sie wird achtzehn, Charlie, und das ist etwas ganz Besonderes. Warum fliegen wir nicht hin und überraschen sie?«

Sie drehte sich um und küsste ihn auf die Nase. Er atmete schwer.

»Charlie!« Nina rüttelte ihn sanft, bis er ein Kosewort murmelte und sie an sich zog. »Nein, Charlie, wach auf.«

»Ich bin doch wach«, protestierte er. »Eine prima Idee.«

Nina schüttelte ihn wieder. »Nein, hör mir zu. Wir können in Hongkong bei den Lims wohnen. Und während du dich um deinen Pferdekram kümmerst, lasse ich mir ein paar Sachen nähen. Yen Ho stört es nicht, wenn ich erst in letzter Minute anrufe.« Die Lims waren ein reizendes chinesisches Ehepaar und schon seit vielen Jahren gute Bekannte von Nina und Charlie. Außerdem hatte Nina gegen zwei Tage in Yen Hos Modesalon nichts einzuwenden.

»Und von dort aus fliegen wir nach England und überraschen Jo. Danach kannst du nach Irland weiterreisen.«

»Wie du möchtest, mein Schatz«, erwiderte Charlie schläfrig und drehte sich um. Plötzlich hellwach, lag Nina da und schmiedete Reisepläne.

»Wir werden mit keinem Sterbenswörtchen verraten, dass wir kommen«, sagte Nina am nächsten Tag beim Frühstück aufgeregt. Charlie war gerade von der Rennbahn nach Hause gekommen. »Stattdessen stehen wir einfach mit unseren Geschenken bei Emmas Tante Sarah vor der Tür. Wenn wir uns telefonisch anmelden, wird sie sich bestimmt verplappern. Aber ich möchte, dass es für meine wundervolle Modeltochter eine Überraschung wird. Wir müssen ja nicht dort übernachten und Sarah Arbeit machen. Ich werde mit Jo in London ins Theater gehen, und dann lassen wir sie noch einmal fotografieren, um ihre Mappe auf den neuesten Stand zu bringen und etwas in der Hand zu haben, was wir unseren Freunden zeigen können. Wenn du nach Irland fliegst, kehren wir nach Paris zurück. Ich werde sofort Eve im Reisebüro anrufen. Bestimmt weiß sie, welche Stücke gerade in London gespielt werden, und kann mir Eintrittskarten besorgen. Bertie kommt schon zurecht, schließlich arbeitet er während der Sommerferien in einer Kanzlei. Er und Jackie können auch ein Auge auf das Haus haben und sich um Sam kümmern«, sprach sie fröhlich weiter.

Erstaunlicherweise gelang es Nina tatsächlich, alles in kürzester Zeit zu organisieren, und so landeten die Kingsfords zwei Tage später in der stickigen Hitze des Flughafens von Hongkong.

Charlie musste zugeben, dass er sich genauso wie Nina auf ein Wiedersehen mit Jo freute. Während der Besprechungen mit seinen Geschäftspartnern in Hongkong hatte er Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, und als sie in die Maschine nach London stiegen, war er ebenso aufgeregt wie seine Frau. Jo hatte es geschafft, sich als Fotomodell durchzusetzen. Obwohl Charlie seine Tochter immer für schön gehalten hatte, machte es ihn stolz, dass sie in einem nicht selbst gewählten Beruf erfolgreich war. Er konnte es kaum erwarten, ihr das zu sagen.

Verglichen mit der schwülen Hitze Hongkongs waren die eisigen Temperaturen in England beinahe eine Erleichterung, wenn man davon absah, dass Nina sich sofort eine Erkältung einfing. Nach einem kurzen Abstecher in die teuren Einkaufsstraßen von Knightsbridge machten sich die Kingsfords auf den Weg aufs Land. Charlie war glücklich über Ninas fröhliche Miene. Sie redete wie ein Wasserfall und versuchte, nicht auf die arktische Kälte zu achten. Munter sauste der mit Geschenken beladene Mietwagen über die Schnellstraße. Sie verbrachten die Nacht in einem hübschen, kleinen und altmodischen Gasthaus am Stadtrand von Worcester und brachen nach dem Frühstück nach Shelsley auf. Nina nieste und putzte sich ständig die stark gerötete Nase.

Bei der Ankunft der Kingsfords führte Sarah gerade die Hunde aus. Die Köchin öffnete die Tür. Charlie und Nina lehnten ihr Angebot ab, ins warme Haus zu kommen, um die Überraschung nicht zu verderben, und warteten zwanzig Minuten lang mit auf Hochtouren laufender Heizung und beschlagenen Scheiben im Auto. Schließlich sahen sie eine hoch gewachsene Gestalt in einem mit Schlamm bespritzten Dufflecoat und Gummistiefeln die Straße hinaufkommen. Sie wurde von zwei schwarzen Retrievern begleitet, die hechelnd mit dem Schwanz wedelten und alles am Wegesrand beschnüffelten. Der Atem stand ihnen in weißen Wolken vor den Schnauzen. Sarah musterte die frühen Besucher und stieß einen erstaunten Ruf aus, als sie sie erkannte.

»Nina! Und Sie müssen Mr Kingsford sein! Was für eine schöne Überraschung. Wenn Sie mich vorgewarnt hätten, hätte ich etwas Besseres angezogen.« Sie schob sich eine graue Haarsträhne aus der Stirn, die unter dem Paisleytuch herausgerutscht war, und rief nach den Hunden. »Kommen Sie ins Warme. Ich bitte die Köchin, uns Kaffee und Kuchen zu bringen.«

»Wir wollten Jo zu ihrem Geburtstag überraschen«, verkündete Nina strahlend.

Sie sprang aus dem Wagen und tätschelte die Hunde, die schnuppernd um sie herumtänzelten, ohne auf Sarahs Befehle zu achten.

»Ist meine liebe Tochter schon wach, oder sind wir zu früh dran?«, fragte sie aufgeregt.

Sarah musterte Nina verdutzt.

»Jo ist nicht hier. Sie ist nach Paris zurückgekehrt. Vor einer Woche habe ich Emma und sie zur Bahn gebracht.«

»Paris!«, rief Nina entsetzt und wurde unter dem dicken Make-up ganz bleich. Trotz des warmen Wollmantels überlief sie ein Kälteschauer. Wegen der Erkältung hatte sie einen dicken Kopf und fühlte sich fiebrig. »Das kann nicht sein. Ich habe am letzten Sonntag mit ihr telefoniert, und sie hat mir erzählt, sie werde bis Ende des Monats in England bleiben.«

Hilfesuchend sah sie Charlie an.

»Nein, nein, das muss ein Missverständnis sein. Sie ist ganz sicher in Paris«, entgegnete Sarah mit Nachdruck. »Emma hat sich gemeldet, um mir zu sagen, dass sie wohlbehalten angekommen ist …«

Ihre Stimme erstarb, als ihr ein schrecklicher Verdacht kam.

»Wollen wir das nicht lieber drinnen besprechen?«, schlug Charlie vor.

Wegen der Kälte hatte er den Kopf zwischen die Schultern gezogen, und der Ausdruck um Ninas Mund war ihm nicht entgangen. Plötzlich fühlte er sich ziemlich albern. Nie hätte er sich von Ninas Begeisterung anstecken und alles dem Zufall überlassen sollen. Doch auch er hatte Lust gehabt, Jo zu überraschen. Als er nach dem Arm seiner Frau griff, riss sie sich los, stapfte wütend durch den Schneematsch, streifte sich mit einer ungeduldigen Bewegung die Füße ab und folgte Sarah ins Haus. Nachdem Charlie sich sorgfältig die Schuhe an der Fußmatte abgewischt hatte, trat auch er ein.

»Ach, du meine Güte, wie entsetzlich. Haben Sie eine Vermutung, bei wem sie sein könnte?«, fragte Sarah, nachdem Nina, vom Niesen geschüttelt, immer wieder beteuerte, Jo habe Freunde in England besuchen wollen. »Deshalb haben wir angenommen, dass sie bei Ihnen wohnt und dass Sie wissen, was los ist«, erwiderte Nina spitz, zog die Lederhandschuhe aus und verstaute sie in ihrer neuen Handtasche.

Tränen traten ihr in die Augen. Das Ganze war so enttäuschend. Wie hatte Jo nur derart rücksichtslos sein können, ihnen nicht mitzuteilen, wo sie war. Außerdem war es in diesem Haus kalt wie in einem Iglu. Wieder fröstelte sie.

»Ich wünschte, das wäre so«, meinte Sarah besorgt.

»Nun, haben Sie vielleicht einen Verdacht? Könnten Sie jemanden anrufen?«, fragte Charlie.

Er war ebenso enttäuscht und verärgert wie Nina. Außerdem machte ihm der Zustand seiner Frau zu schaffen, deren Wangen sich zusehends röteten. Sarah schüttelte den Kopf. Emma war in New York. Jenny war in Griechenland. Und Jo hatte sie zuletzt gesehen, als sie ihr am Bahnhof von Worcester beim Abschied zugewinkt hatte. Sie überlegte.

»Moment … da gibt es jemanden, der uns vielleicht weiterhelfen kann …« Sie griff zum Telefon, wählte und hoffte, dass ihr Verdacht unbegründet war.

Jo beugte sich über die mit alten Hufeisen bedeckte Werkbank des Hufschmieds und pustete, angefeuert vom Johlen ihrer neuen Kollegen, die achtzehn Kerzen auf ihrem Geburtstagskuchen aus. Sie freute sich, dass Faith, ihre Zimmergenossin, diese kleine Überraschungsfeier für sie organisiert hatte. Entschlossen senkte sie das große Messer in den Kuchen, schloss die Augen und wünschte sich etwas.

»Lass Daddy verstehen, dass ich unbedingt mit Pferden arbeiten muss«, schickte sie ein lautloses Stoßgebet zum Himmel.

»Mach, dass die Pferde ihr endlich antworten«, rief John, ein hochgewachsener, schlaksiger Neunzehnjähriger, der sich rasch mit Jo angefreundet hatte.

Seitdem er Zeuge geworden war, wie sie an ihrem zweiten Tag in Stockenham Park einem Pferd etwas zugeflüstert hatte, hänselte er sie damit – das Ergebnis war, dass die anderen sie ebenfalls aufzogen.

»Das tun sie doch schon«, erwiderte Jo und errötete.

Sie versetzte John einen Schubs, schnitt den Kuchen auf und verteilte die einzelnen Stücke. Zufrieden biss sie in das lockere, gelbe Backwerk und konnte noch immer kaum fassen, dass sie tatsächlich in Stockenham Park arbeitete.

In den nächsten Minuten waren bis auf genüssliches Kauen nur das Zwitschern der Spatzen im Gebälk und hin und wieder die Bewegung eines Pferd in seiner Box zu hören. Jo konnte sehen, wie Wolken über den Winterhimmel jagten. Ein dunstiger Sonnenstrahl spiegelte sich in der Messingplakette einer Stalltür. Schließlich war der Kuchen verspeist. Jo bedankte sich schüchtern bei ihren neuen Freunden für die schöne Überraschung, und dann machten sich alle wieder an die Arbeit.

Es war schon fast zehn Uhr vormittags. Berge von grauem Schneematsch mussten weggeräumt und vom Wind durcheinandergewehtes Stroh zusammengefegt werden. Jo hatte ausgerechnet, dass England neun Stunden in der Zeit hinter Sydney herhinkte, und beschlossen, ihre Eltern erst spätabends anzurufen. So gewann sie nicht nur Zeit, sondern würde ihren Vater ziemlich sicher zu Hause antreffen. Es wäre leichter, zuerst mit ihm zu sprechen. Während sie den Pferdemist aus einer Box gabelte und es auf den Haufen im Hof warf, ging sie in Gedanken durch, was sie ihm sagen wollte. Ihr wurde flau im Magen.

So sehr war sie in ihre Grübeleien versunken, dass sie beinahe einen Satz machte, als Kurt ihr auf die Schulter tippte. Beim Anblick seiner schlitzohrigen Miene lief es ihr kalt den Rücken hinunter.

»Du hast Besuch«, sagte er barsch.

Jos Herz machte einen Satz. Emma! Sie hatte versprochen vorbeizuschauen, wenn Jo am wenigsten mit ihr rechnen würde. Sicher war sie aus New York zurück. Es passte zu ihr, an Jos Geburtstag unangemeldet aufzukreuzen. Jo bohrte die Heugabel in den Haufen und hastete, ein erwartungsvolles Lächeln auf dem Gesicht, aus dem Stall. Kurt folgte ihr langsam.

»Hallo, Jo«, meinte Charlie.

»Dad!« Jo blieb ruckartig stehen.

Sie errötete heftig, und ihr Lächeln war mit einem Mal wie weggeblasen. Nachdem sie sich von ihrem Schrecken erholt hatte, lief sie auf ihn zu und fiel ihm um den Hals. Doch als sie bemerkte, dass er nicht vorhatte, die Umarmung zu erwidern, wich sie zurück.

»Ich wollte dich heute anrufen, Dad. Ich kann dir alles erklären«, stammelte sie, ihre Hände ringend. »Kurt war sehr nett zu mir, und Mr und Mrs Compton auch. Ich habe viel gelernt, Dad. Du wirst stolz auf mich sein, wenn du aufhörst, dich zu ärgern. Ich wollte dir nur beweisen, dass ich mit Pferden arbeiten kann, damit du es mir auch wirklich zutraust … Etwas anderes ist mir nicht eingefallen …«

Ihre Worte verhaspelten sich. Als Jo endlich verstummte, zitterte sie am ganzen Leib. Charlie hatte sich nicht von der Stelle gerührt.

»Deine Mutter ist im Auto. Sie ist so wütend, dass sie nicht aussteigen wollte«, sagte er mit finsterer Miene.

Jo starrte ihn an.

»Mum ist hier?«, fragte sie entsetzt, und ihre Wangen glühten.

»Wir wollten dich an deinem Geburtstag überraschen. Es war ihre Idee. Nun, eine Überraschung war das sicher. Wir müssen unter vier Augen miteinander reden, mein Kind«, verkündete er.

Rasch trat Kurt vor.

»Sie ist meine Mitarbeiterin, und sie hat zu tun. Mach weiter, Jo. Das Gespräch kannst du in der Mittagspause führen«, befahl er.

»Wie gewonnen, so zerronnen, was?«, höhnte Charlie, dessen Wut von Kurts Verhalten noch geschürt wurde. Entsetzt hatte er seinen Augen kaum getraut, als er beim Betreten des Stalls plötzlich vor seinem Erzfeind gestanden hatte. Außerdem war er zornig auf Jo.

»Jo«, wiederholte Kurt drohend.

»Du Dreckskerl. Wie kannst du es wagen, mich in Gegenwart meiner eigenen Tochter herumzukommandieren?«, brüllte Charlie, der nun endgültig die Beherrschung verlor. »Und was dich betrifft …«

Er packte Jo am Arm.

»Bitte, Daddy«, flehte Jo und versuchte unter Tränen, sich loszureißen.

»Lass meine Mitarbeiter in Ruhe, sonst werfe ich dich raus«, sagte Kurt kühl, ohne auf Charlies Anspielung einzugehen: Nur seinem leichtsinnigen Umgang mit Geld hatte er es nämlich zu verdanken, dass er wieder für andere arbeiten musste. »Wir streiten uns wieder um ein Mädchen, ganz wie früher«, fügte er grinsend hinzu. Dann wies er mit dem Kopf auf die Box. »Fang an, Jo, wenn dir dein Job wichtig ist.«

»Ja, lass sie gehen«, sagte da eine heisere Stimme.

Jo und Kurt wirbelten herum und sahen Nina, die vorsichtig durch den noch nicht weggeräumten Schneematsch watete. Ihre Wangen waren gerötet, und sie presste sich ein Taschentuch vor die Nase.

»Nina. Das darf doch nicht wahr sein. So schön wie eh und je«, rief Kurt zur Begrüßung.

»Mum«, stieß Jo hervor.

»Hallo, Kurt«, sagte Nina mit verkniffenen Lippen. Ihre Mundwinkel bebten, und sie blickte zwischen Jo und Kurt hin und her. »Du kannst diese miese kleine Egoistin haben. Schau, dass sie wirklich arbeitet und dir nicht nur das Geld abknöpft.«

Mit hasserfülltem Blick trat sie auf Jo zu. Ihr Schädel pochte. Ihre Worte trafen Jo wie ein Schlag ins Gesicht.

»Wenn sie unbedingt so leben will, soll sie doch. Lass sie im Mist und Dreck herumwühlen.« Sie sah Jo an. »Du undankbare kleine Schlampe. Wie kannst du es wagen, mir das anzutun und mich und meine Freunde derart zu beleidigen? Erst siehst du seelenruhig zu, wie ich Geld und Zeit investiere, um dir einen Start zu ermöglichen, damit du es zu etwas bringst. Und dann das. Wie kannst du nur?«

Sprachlos starrte Jo ihrer Mutter in das tränenüberströmte Gesicht. Charlie eilte auf Nina zu und legte ihr den Arm um den zitternden Körper. Er spürte, dass sie immer mehr außer sich geriet.

»Neene, mein Schatz, du fühlst dich nicht wohl. Lass uns später wiederkommen und alles in Ruhe bereden«, meinte er leise, in dem Versuch, sie zu beschwichtigen. Aber Nina stieß ihn weg.

»Nein, Charlie, nein«, rief sie, von Schluchzern geschüttelt. »In den letzten beiden Jahren haben wir Unsummen ausgegeben, damit sie nur das Beste bekommt. Und sie wirft es uns einfach vor die Füße und belügt und hintergeht uns. Dir mag es genügen, die Hände in den Schoß zu legen und dich von ihr ausnützen zu lassen, aber mir reicht es. Sie hat uns mitgeteilt, was sie will. Soll sie es haben.«

Sie drehte sich zu Jo um.

»Du wirst keine fünf Minuten durchhalten, nachdem du in ganz Europa die Prinzessin gespielt hast. Für dich ist das alles nur ein Spiel, und es interessiert dich nicht, wen du dabei vor den Kopf stößt oder kränkst. Wann wirst du endlich erwachsen? Lass sie ihre Lektion lernen, Charlie. Soll sie bleiben, in dem Dreck und Matsch. Irgendwann wird sie schon heulend nach Hause zurückkommen.«

Ihre Augen glitzerten fiebrig.

»Ich gebe dir höchstens sechs Monate.«

Sie bekam einen Hustenanfall.

»Mum, bitte, Mum, so ist es nicht … Hör mich doch an. Tu das nicht«, rief Jo, verzweifelt angesichts der Gehässigkeit ihrer Mutter.

Die Tränen liefen ihr die Wangen hinunter, aber Nina wandte unwillig den Blick ab, machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte an den Ställen vorbei zum Auto.

»Du hattest deine Mädchen noch nie im Griff, was, alter Junge? Aber ich muss ein Gestüt leiten. Verschiebe deinen Familienstreit also bitte auf später«, höhnte Kurt.

Diese Worte waren der Tropfen, der für Charlie das Fass zum Überlaufen brachte. Hin und her gerissen zwischen dem Bedürfnis, Nina zu unterstützen, und dem Schrecken gegenüber Jos Entsetzen, packte er seine Tochter fest am Arm und zerrte sie mit sich. Die freie Hand zur Faust geballt, trat er auf Kurt zu.

»Das war ein Trick zu viel, du Bastard, und zwar einer, den du den Rest deines Lebens bereuen wirst.« Charlie musste sich beherrschen, um seinem Widersacher nicht das spöttische Grinsen aus dem Gesicht zu prügeln.

»Willst du mir drohen?«

»Genau das tue ich! Wir gehen, Jo«, brüllte Charlie und schob Jo zur Stalltür.

Jo riss sich los und blickte verzweifelt zwischen ihrem Vater und Kurt hin und her.

»Ich kann nicht, Dad. Ich arbeite hier. Das ist mein Job«, stieß sie hervor, floh in den Stall und ließ Charlie mitten auf dem Hof stehen.

Mit tränenüberströmtem Gesicht stocherte sie blind im Heu herum. Alles war schiefgelaufen. Ihre Mutter hasste sie, und ihr Vater würde sie vermutlich nie verstehen. Außerdem hatte sie sicher auch noch ihren Job verloren. Sie schüttelte die Tränen weg, die weiter ihren Blick verschleierten, und nahm einen Haufen Mist auf die Gabel. Draußen brüllten sich Charlie und Kurt an. Dann wurde es plötzlich still.

Jo schleuderte den letzten Pferdeapfel auf den Haufen und knallte die Heugabel gegen die Wand, sodass sie klappernd zu Boden fiel. Doch diesmal ließ Jo sie einfach liegen. Nachdem sie die Box ausgespritzt hatte, fegte sie in Rekordgeschwindigkeit den Boden und verteilte frisches Heu. Als sie hinauslief, um Luzerne zu holen, stieß sie beinahe mit John zusammen, der gerade, einige Sättel auf dem Arm, aus der Sattel- kammer kam.

»Schau doch, wo du hinrennst, verdammt«, schimpfte sie mit gesenktem Kopf, zog ein Taschentuch heraus, um sich die Nase zu putzen, und eilte in den Lagerraum. Der Vormittag erstreckte sich unendlich vor ihr.

»Wenn du möchtest, kannst du früher Mittagspause machen. Dein Vater erwartet dich im Büro«, meinte Kurt freundlich und spähte in die Box, in der Jo gerade den Verband an der Fessel eines Pferdes wechselte.

Jo murmelte einen Dank, ohne aufzublicken. Als sie mit dem Verbinden fertig war, wusch sie sich Hände und Gesicht. Mit rot geweinten und verquollenen Augen eilte sie zum Büro. Auf den gefrorenen Blumenbeeten sah es so leer und trostlos aus wie in ihrem Herzen.

Charlie saß auf einem Stuhl und las in einer Zeitschrift. Mit finsterer Miene stand er auf, als sie hereinkam.

»Steig sofort ins Auto! Wir fahren zum Mittagessen«, befahl er.

Jo gehorchte kleinlaut, obwohl sie wusste, dass sie keinen Bissen herunterbringen würde. Von Nina war nichts zu sehen.

»Daddy, wenn du mir Gelegenheit geben würdest, zu erklären …«, begann Jo, als sie in einer Ecke des Gasthofes George & Dragon saßen. Sie war fest entschlossen, nicht mehr zu weinen.

»Nein, du hörst mir zu, Jo. Du hast keine Ahnung, was du angerichtet hast. Dieser Mann ist ein übler Kerl. Er hat dich nur eingestellt, um mir zu schaden und die Kingsford Lodge in den Ruin zu treiben. Also schlag dir deine albernen und romantischen Flausen aus dem Kopf. Warum, glaubst du, hat er dich genommen, obwohl er Dutzende von Mädchen mit viel mehr Erfahrung hätte haben können?«

»Weil ich auch Erfahrung habe, Dad, das hat er mir selbst gesagt … und zwar, weil ich für dich gearbeitet habe«, gab Jo zurück. »Wo ist Mum?«

»Sie hat Fieber. Hast du ihm das wirklich abgenommen? Jo, du bist so naiv.« Charlie streckte die Hand aus, aber sie zog rasch den Arm zurück und spielte auf dem Schoß an ihren Fingernägeln herum.

»Sei nicht so gönnerhaft, Dad. Ich bin schon achtzehn, und ich weiß, was ich tue.«

Charlies Blick wurde hart.

»Du bist erst achtzehn und hast keine Ahnung, mit wem du dich eingelassen hast. Kurt Stoltz ist ein böser Mensch. Er hat mir nie verziehen, dass ich deine Mutter geheiratet habe und erfolgreicher bin als er. Dich hat er nur eingestellt, weil du meine Tochter bist, und er will dich über meine Methoden aushorchen. Geh dort weg, bevor du uns alle ruinierst.«

Jo erinnerte sich an Kurts beharrliche Fragen. Sie verzog das Gesicht.

»Ich habe recht, oder? Er hat bereits versucht, dich auszuspionieren«, fuhr Charlie fort.

»Du irrst dich, Dad. So ist er nicht«, rechtfertigte sich Jo und schob den dampfenden Teller mit der Fleischpastete weg, die Charlie bestellt hatte. Dann strich sie eine Haarsträhne zurück. »Er hat mir alles über dich, Mum und ihn erzählt.«

Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Augen sich mit Tränen füllten, als sie ihre Mutter erwähnte, aber sie sprach beharrlich weiter.

»Er sagte, er hätte dich bewundert. Früher sah er viel besser aus, und er meinte, ihr beide seid Freunde gewesen. Er hätte Mum sehr gern gehabt, aber immer gewusst, dass sie dich liebt. Ihr wart eine große glückliche Familie. Warum sollte er das alles erfinden?«

Charlie holte tief Luft.

»Das hat dieser Mistkerl dir also weismachen wollen. Jetzt pass mal gut auf …«

Aber Jo wollte nichts mehr hören.

»Ich mag ihn, Dad, und mir gefällt mein Job.« Sie stand auf und zog den Pullover an, der über der Stuhllehne hing. »Die Comptons sind stolz darauf, dass ich auf ihrem Gestüt arbeite. Das hat Mrs Compton selbst zu mir gesagt. Ich habe Freunde. Kurt respektiert mich. Ich weiß, dass ich recht habe, und ich bleibe. Können wir zurückfahren?«

»Du irrst dich, Jo. Du machst einen Fehler«, erwiderte Charlie und erhob sich ebenfalls. Es machte ihn wütend, dass Jo nicht wahrhaben wollte, wer Kurt in Wirklichkeit war. Allerdings war der Mann ein geschickter Betrüger.

Obwohl Charlie zugegebenermaßen nicht der Mensch war, der sich eine Gelegenheit entgehen ließ, ärgerte es ihn noch immer, mit welcher Genugtuung Kurt Teile von Dublin Park an sich gerissen hatte, als die Familie in einer Krise steckte. Wenn es ihm nur auf das Land angekommen wäre, hätte Charlie ihn verstehen können, aber das war nicht genug gewesen. Kurt würde erst zufrieden sein, wenn er Charlie alles genommen hatte. Am allermeisten war ihm früher daran gelegen, Nina für sich zu gewinnen. Dank seines guten Aussehens und seiner Schlagfertigkeit hätte er es beinahe geschafft. Doch ihr Instinkt hatte Nina vor dem romantischen Kavalier gewarnt und in letzter Minute verhindert, dass sie mit ihm vor den Altar trat. Charlie war so erleichtert gewesen, dass er es gar nicht in Worte fassen konnte. Damals hatte er triumphiert. Nina hatte lange gebraucht, um die Beziehung zu Kurt, ihrer ersten Liebe, nicht mehr zu verklären.

Charlie schüttelte es, wenn er sich vorstellte, wie Nina vor ihrer Hochzeit in Kurts Armen gelegen hatte. Damals glaubte er, sie für immer verloren zu haben, und diese Erinnerung schürte seine Wut und Erbitterung gegen Jo.

»Du hast deiner Mutter das Herz gebrochen, unsere Freunde beleidigt und unbeschreibliche Mengen an Geld und Zeit vergeudet, die wir in dich investiert haben. Genug ist genug, Jo. Entweder kehrst du nach Paris zurück und bleibst Fotomodell, oder du kommst mit mir nach Hause.«

»Um bei dir in den Ställen zu arbeiten?« Kurz leuchtete Hoffnung in Jos Augen auf.

»Fang nicht wieder damit an, Jo«, sagte Charlie barsch und zog die Brieftasche heraus.

Jo war verzweifelt. Sie konnte nicht zu ihrem Vater durchdringen, und ihre Mutter weigerte sich sogar, mit ihr zu sprechen. Noch nie hatte sie sich einsamer und schuldiger gefühlt, aber sie durfte nicht nachgeben.

»Es tut mir leid, Dad, denn ich wollte dir und Mum niemals wehtun. Ich liebe euch beide sehr. Warum wollt ihr nicht verstehen, dass ich mich nie nach etwas anderem gesehnt habe, als diesen Beruf zu ergreifen? Du liebst Pferde, und du hast mir beigebracht, sie auch zu lieben. Warum erlaubst du es mir dann nicht?« Ihre Stimme bebte. »Wenn ich zu Hause nicht für dich arbeiten darf, bleibe ich in Stockenham Park, bis du deine Meinung änderst. Und jetzt muss ich zurück, meine Mittagspause ist vorbei.«

Jos Beine waren so wackelig, dass sie sich fragte, wie sie es bis nach draußen schaffen sollte. Sie wischte sich die Tränen weg, die sie nicht länger unterdrücken konnte, und ihre Verzweiflung wuchs, als sie sah, wie ihr Vater bedächtig Pfundnoten aus der Brieftasche zog.

»Bitte, Dad.«

Ungerührt musterte Charlie seine Tochter. Er war nicht in der Lage, über seine Wut und Kränkung hinauszublicken und zu erkennen, dass Jo ihre Beharrlichkeit von ihm geerbt hatte.

»Gut, wenn du es so willst … Von nun an bist du auf dich allein gestellt, bis du wieder zur Vernunft kommst. Aber heul uns nichts vor, wenn es schiefgeht.« Er warf die Geldscheine auf den Tisch und marschierte an Jo vorbei ins Freie.

Jo lächelte dem Wirt verlegen zu und lief ihrem Vater nach. Draußen war die Sonne hinter bedrohlichen Wolken verschwunden, und ein eisiger Wind peitschte ihr ins Gesicht. Auf der Fahrt über die gewundenen Straßen zurück nach Stockenham Park sprach keiner von ihnen ein Wort.

Charlie hielt den Wagen an, und Jo stieg aus. Das Elend schnürte ihr die Kehle zu.

»Es tut mir leid, Dad. Ich liebe euch beide so sehr. Bitte glaubt mir«, flüsterte sie und blickte zum Wagenfenster hinein. »Bitte richte Mum aus …«

Charlie sah sie mit eiskalter Miene an.

»Es tut dir leid? Du hast keine Ahnung, was du angerichtet hast«, sagte er und fuhr davon.

Tränenblind wankte Jo in den Lagerraum und brach weinend auf dem Steinfußboden zusammen.